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Erinnerungen für die

europäische Verantwortung heute

 

 

Auszug aus der Rede von Irene Scherer, Talheimer Verlag, anlässlich der Vorstellung des Buches „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier“ am 17. Juli 2012 in der Tonnenhalle der Neuen Pausa am Löwensteinplatz in Mössingen

 

Wir möchten Sie einladen, das Buch zum Anlass zu nehmen, sich ein paar Momente des Sich-Besinnens und des Nachdenkens einzuräumen. Vordergründig nehmen wir gerade gemeinsam an einer Buchvorstellung teil. Eine wissenschaftliche Arbeit, die vor 30 Jahren erstmals erschien, wird heute in neuer Aufmachung, mit neuen Bildern, ergänzenden Texten, einem wertenden Vorwort und einem wirkungsgeschichtlichen Nachwort neu aufgelegt. Als Talheimer Verlag sind wir dieses unternehmerische Risiko ohne äußere Fördermittel eingegangen. Doch unsere Motive für dieses Handeln wurzeln vor allem in der Verantwortung für eine öffentliche, gesellschaftliche Erinnerungsarbeit. Der Rückblick auf die Geschehnisse am 30. und 31. Januar 1933 vor achtzig Jahren ist nicht nur ein aufklärerischer Ausflug in die Geschichte. Der Blick auf den Tag des Generalstreiks ist zugleich ein Blick auf das verbrecherische NS-Regime als Ganzes, das die Generalstreikenden erkannt haben und verhindern wollten. Es besteht kein Zweifel: Das damalige Verhalten der Mössinger Frauen und Männer, Arbeiter, Bauern und Handwerker war gerechtfertigt, ermutigend und vorbildlich. Heute können wir Erinnerungsarbeit nicht auf einen Tag, eine Halle, eine Straße oder drei Betriebe verengen. Wir müssen die Zusammenhänge des Januar 1933 mit den Folgejahren betrachten. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hatte es in seiner berühmten Rede am 8. Mai 1985 so formuliert: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ 

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Der Nationalsozialismus war ein Verbrechen. Eine Reihe von Menschen mit ganz unterschiedlichen Motiven haben sich dem Regime in den Weg gestellt oder haben dies versucht. Es waren Katholiken, Juden, Protestanten, Atheisten. Es waren Sozialdemokraten und Gewerkschafter, Liberale und Kommunisten, Sinti und Roma, Adelige und Militärs, Homosexuelle oder Zeugen Jehovas. Sie alle hatten unterschiedliche Vorstellungen, wie das Land nach einem erhofften Sturz Hitlers gestaltet werden könnte. Die einen wollten eine Republik im Sinne Erzbergers, andere träumten von einem Wieder-Erstarken eines adeligen Preußen. Manche wollten eine Räterepublik, andere eine parlamentarische Demokratie im Sinne des späteren Grundgesetzes. Der „Kreisauer Kreis“ um James von Moltke konzipierte die Umrisse eines neuen Europa. Doch alle zusammen waren sie nicht stark genug, um das NS-Regime zu brechen. Erst der militärische Zusammenschluss der Truppen der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Frankreichs als Alliierte brachte endlich die Befreiung von der Diktatur.

Heute – achtzig Jahre später – würdigen wir alle Formen des Widerstandes gegen Hitler. Dies sind wir uns selbst und unserer Glaubwürdigkeit gegenüber den Opfern und gegenüber unseren Nachbarn schuldig. In unserer Lebensgeschichte haben wir – Welf Schröter und ich – in den zurückliegenden Jahrzehnten immer zu unseren Freunden in den Oppositionsbewegungen im so genannten „Realsozialismus“ gehalten. Seien es damals die polnischen Kollegen der Solidarnosc, die Schriftsteller in der „Charta 77“, die untergründige Demokratiebewegung in Leipzig oder die „Andersdenkenden“ in der Sowjetunion gewesen. Doch in den Gesprächen und Kontakten mit ihnen – wie zum Beispiel mit Lew Kopelew – gab es eine Konstante: Sie fragten uns stets besorgt nach der Stärke eines deutschen Nationalismus. Sie hatten in ihren Ländern die deutsche Besatzung nicht vergessen. Für unsere oppositionellen Freunde in Warschau, Prag, Budapest und Leipzig gehörten nicht Demokratie und Nationalstaat zusammen, sondern Demokratie und Europa.

Als Talheimer Verlag ist uns nicht nur die Erinnerungsarbeit wichtig. Wichtig ist zugleich die Zukunftsarbeit für ein gemeinsames Europa. Wir teilen die europäischen Hoffnungen des verstorbenen Vaclav Havel. Rückblickend bekommt der Mössinger Generalstreik deshalb aus unserer Sicht auch eine europäische Bedeutung. Er markiert einen Wendepunkt. Als vor dreißig Jahren das Buch „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier“ erschien, geriet es hinein in ein immer noch bestehendes Blockdenken. Die Geister des Kalten Krieges waren noch immer munter und versuchten das Buch zu diskreditieren. Wenn wir heute als Verlag das Buch – zusammen mit dem fachlich-wissenschaftlichen Autoren-Team und den Herausgebern Bernd Jürgen Warneken und Hermann Berner, der den Anstoß zu dieser Neuauflage gegeben hat, – neu zugänglich machen, befinden wir uns alle zusammen in einer neuerlich historisch veränderten Situation.

Die derzeitige Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa hat eine ähnlich weit reichende Bedeutung wie der Fall der Berliner Mauer 1989. Es geht erneut um die Neuausrichtung Europas. Die Frage der Richtung steht wieder auf der Tagesordnung. Nicht die Rückwendung auf ein nationalstaatliches oder gar nationalistisches Denken ist gefordert, sondern die aktive Hinwendung zu einem Mehr an Europa ist unabdingbar. Es ist die Stunde von Vaclav Havel, Lew Kopelew und Adam Michnik: Die Demokratie verbündet sich mit Europa, nicht mit einem nationalen Rückschritt. Wir brauchen ein demokratisches und friedfertiges Gesamteuropa. Unsere Freunde in der „Charta 77“ in Prag sagten es in ihren Worten: Die Antwort auf Hitler heißt Europa.

Dies ist eine Aussage, die derzeit erfreulicherweise gerade auch viele junge Polen, Tschechen, Litauer teilen. Heute sind wir in unserer Verantwortung gefordert. Wir benötigen Nachdenklichkeit und die Fähigkeit, unseren europäischen Nachbarn zuzuhören. Wer heute in Deutschland wieder anfängt, die NS-Zeit schönzureden oder die Hitler-Diktatur als bloße rechtliche Fortsetzung der Weimarer Republik verfälscht, schwächt den Weg nach Europa oder will ihn schwächen. Wir haben unsere Meinung dazu in eine „Verlegerische Notiz“ in das Buch aufgenommen. Statt ungleichzeitiger Sehnsucht nach Rückwärts, statt Ausgrenzung von Menschen brauchen wir den Mut für ein neues Miteinander, für eine neue Vielfalt, für einen offenen Pluralismus, für ein europäisches Denken im Sinne Vaclav Havels, Willy Brandts, Helmut Kohls und Francois Mitterands.

Doch auch eine andere Verantwortung gilt es anzusprechen. Durch die Nachkriegsgeschichte der Stadt Mössingen durchzieht sich ein unsichtbarer Faden, der noch immer wirkt und schwer greifbar ist. Es ist der Schatten der Stigmatisierung und Ausgrenzung. Die Familien der Generalstreiker hatten es schwer. Während der Nazi-Zeit wurden Familienmitglieder verurteilt und verhaftet. Sie wurden in Gefängnisse und Lager gebracht, die Familien wurden drangsaliert. Nach dem Krieg setzte alsbald die Stigmatisierung wieder ein: „Dein Vater war ein Zuchthäusler. Deine Großmutter war ein Zuchthäuslerin.“ Mit solchen Sätzen wurden Menschen abermals verletzt. Statt Anerkennung und Würdigung erfuhren sie offene und versteckte Ausgrenzung. Noch heute ist das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, bei manchem Nachkommen der Generalstreiker gegenwärtig.

Ich möchte deshalb in diesem Moment etwas innehalten. Das Erstellen des Buches hat uns viele Gespräche gebracht. Es waren ermutigende Gespräche, die uns drängten, das Wagnis des Buches einzugehen. Es waren Gespräche, die gleichsam inkognito geführt wurden, in denen die Angst vor neuer Stigmatisierung hervortrat. Und es waren Gespräche mit Menschen, die den Generalstreiker-Familien gerne einen stillen verständnisvollen und anteilnehmenden Händedruck gegeben hätten.

Ich wende mich deshalb nun an die Kinder und Enkel der Generalstreikerfamilien und sage: Im Namen vieler Bürgerinnen und Bürger Mössingens bitte ich Sie um Verzeihung und Entschuldigung für das erlittene zweite Unrecht nach 1945 bis heute. Statt böser Worte hätten Sie eher Unterstützung und Würdigung erhalten müssen. Vielleicht kann das nun vorliegende Buch neben sachlicher Aufklärung auch zur Verständigung, zu einem neuen Aufeinanderzugehen beitragen.

Um für diese Sichtweise zu werben und Impulse für verantwortungsvolle Erinnerungsarbeit zu setzen, haben wir als Verlag – zusammen mit zahlreichen Partnerinnen und Partnern – ein umfangreiches Dialog- und Veranstaltungsangebot vorbereitet. Unter dem Titel „Achtzig Jahre Mössinger Generalstreik 1933“ haben wir die Reihe „Erinnerungen für die Verantwortung heute“ entwickelt. Unter dem Titel „Widerständige Worte für die Freiheit“ entstand die Reihe „Lesungen zur Verteidigung der Würde des Menschen“. Wir erinnern darin an 80 Jahre Mössinger Generalstreik am 31. Januar 1933, an 70 Jahre Aufstand im Warschauer Ghetto am 19. April 1943 und an 60 Jahre Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Es sind zwanzig Veranstaltungen von Juli 2012 bis Juli 2013. Es ist die Zeit nachzudenken und aktiv zu werden.

Wir freuen uns, dass der europaweit renommierte Jurist Hans-Ernst Böttcher nach Mössingen kommt. Wir werden den langjährigen Landesrabbiner Dr. Joel Berger begrüßen. Wir freuen uns auf den Vorsitzenden des Verbandes deutscher Schriftsteller, Imre Török. Die Veranstaltungen erinnern an Lisbeth Oestreicher und Ljuba Monstirskaja aus der Löwensteinschen Pausa, an das KZ Wüste hier in der Region, an Andziula Tagelicht und den Aufstand im Warschauer Ghetto, an die von den Nazis verfolgten Künstlerinnen des Bauhauses, an die „Geislinger Weiberschlacht“ und an die verdienstvolle Rolle der Frauen im Mössinger Generalstreik. 

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Als Verlag wünschen wir dem vorliegenden Band, dass er Eingang finde in die Herzen der Bürgerinnen und Bürger, der Schülerinnen und Schüler nicht nur in Mössingen, sondern an vielen Orten. Das Buch will helfen, aus der Geschichte zu lernen und Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung ist hierbei auch als Beitrag zur verteidigenden Sicherung von Freiheitsrechten zu verstehen. Hannah Arendt nannte es „das Recht, Rechte zu haben“. Ich schließe mit einem Buch-Zitat aus dem Urteil des Oberlandesgerichtes Stuttgart vom 25. November 1955, in dem es um die Wiedergutmachung für die Generalstreiker ging. Das Gericht erklärte, dass „der aus Überzeugung geleistete Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ein Verdienst um das Wohl des Deutschen Volkes“ gewesen sei.

 

 

 

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