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Zum vierzigsten Todestag des Hitlergegners Eugen Rosenstock-Huessy

Pressemitteilung vom 9. Januar 2013

Der Jurist, Soziologe und Sprachphilosoph widersprach Carl Schmitt und Adolf Hitler – Sein Hauptwerk „Soziologie“ setzt das Humanum gegen die Zerstörung

 

Vor vierzig Jahren – am 24. Februar 1973 – starb einer der bemerkenswertesten Denker und Dialogiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) war Jurist, Soziologe, Sprachphilosoph und einer der wichtigsten Modernisierer der Erwachsenenbildung. Er forderte eine Wissenschaft des Hörens und entwickelte eine Wissenschaft des Sprechens. Politisch wandte sich Rosenstock-Huessy in aller Schärfe gegen das Denken des Nationalsozialismus, gegen Carl Schmitt und Hitler. Zusammen mit Franz Rosenzweig und weiteren Freunden startete er einen neuen Versuch des Dialoges zwischen Christen und Juden. Als Pädagoge konzipierte er den Projektunterricht für Jugendliche, an denen junge Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten mehrere Wochen gemeinsam ein handwerkliches Bauen und auch die theoretische Debatte erlernten. Aus diesen Jugendprojekten entstand später unter anderem die Widerstandsgruppe „Kreisauer Kreis“ gegen Hitler. Sprecher des Kreises war der Schüler Rosenstock-Huessys, James von Moltke. Zum vierzigsten Todestag Eugen Rosenstock-Huessys erinnert der Talheimer Verlag an dessen Hauptwerk „Soziologie“ mit dem Titel „Im Kreuz der Wirklichkeit – Eine nach-goethische Soziologie“, das als „Talheimer Ausgabe“ erschien.

Für eine Renaissance und Neu-Entdeckung der Werke des Hitlergegners Eugen Rosenstock-Huessy spricht sich der Talheimer Verlag anlässlich des nahenden vierzigsten Todestages (24. Februar 2013) des Universalgelehrten aus. Rosenstock-Huessy habe in der Sprache der Jahrhundertwende ein außerordentliches Werk über die Geschichte des Menschen, der Zeitmessung und der Sprachkultur verfasst. Der Zeitgenosse Ernst Blochs, Paul Tillichs, Margarete Susmans, Martin Bubers und der Brüder Ehrenberg wurde im Nachkriegsdeutschland weitgehend ignoriert, weil er 1933 aus Protest gegen die Machtübergabe an Hitler Deutschland verließ und in die USA emigrierte.

Der Talheimer Verlag hat mit Freya von Moltke bei der Neuausgabe des Hauptwerkes des Universalgelehrten zusammengearbeitet. Dieses fast 2000 Seiten umfassende Hauptwerk wurde durch die persönliche Unterstützung Freya von Moltkes möglich. Die Neuausgabe der Soziologie gehört zu den letzten publizistischen Vorhaben der Verstorbenen. Die „Talheimer Ausgabe“ ist Freya von Moltke gewidmet.

Nach fünfzig Jahren ist das längst vergriffene und bei vielen vergessene Hauptwerk von Eugen Rosenstock-Huessy endlich wieder in fachlich betreuter Fassung erschienen. Vollständig, ohne verlegerische Streichungen und unter seinem ursprünglichen Titel bringen Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner und Lise van der Molen zusammen mit Irene Scherer vom 1988 im Schwäbischen gegründeten Talheimer Verlag das Werk nach mehr als dreizehnjähriger ehrenamtlicher fachlich solider Bearbeitung mit ergänzendem Apparat neu heraus. Nicht in zwei sondern in drei Bänden geschieht dies, wie es der Autor selbst schon Ende der fünfziger Jahre wünschte.

Dieses Werk Eugen Rosenstock-Huessys war und ist eine Herausforderung. Nicht nur die disziplinäre Wissenschaft, sondern auch Theologen und Philosophen werden mit einer anderen, eingreifenden Methode konfrontiert: „Jedes Thema verlangt seine eigene Methode. Man kann die Äpfel in einem Korbe nicht dadurch zählen, daß man sie anspricht; man muß sie zählen. Die Menschen aber kann man nicht erkennen, indem man sie zählt; man muß sie anerkennen. Dies ist die Methode unseres Werks.“ Rosenstock-Huessy legt Offenheit zugrunde: „Wir werden die Soziologie als die Wissenschaft behandeln, mit deren Hilfe wir uns die menschliche Gesellschaft gemeinsam vergegenwärtigen, so wie der Chemiker sich die Elemente vergegenwärtigt. Denn die menschliche Gesellschaft besteht aus Menschen, die einander gegenseitig anerkennen, trotzdem sie sich noch gar nicht oder nur teilweise kennen.“ Entschlossen geht er einen eigenen Weg: „Die Soziologie ist mithin keine Geisteswissenschaft im Sinne alter Universitätsüberlieferungen und erst recht keine Naturwissenschaft im modernen Sinne. Dennoch ist Soziologie echte Wissenschaft, genau wie das, was seit achthundert Jahren Wissenschaft heißt. Denn ihr Verlangen geht auf Vergegenwärtigung.“

Rosenstock-Huessys Ansatz der „Vergegenwärtigung“ sieht den Menschen in seinem Eingebettetsein in die geschichtlichen Abläufe und in seinem Verwobensein mit der Rolle und Bedeutung der Sprache. Der „unreine Denker“, wie er sich selbst nannte, sucht das Gemeinsame der Menschen, auch das Gemeinsame in den verschiedenen Kulturen, Religionen und Glaubensrichtungen. Die „Krise Europas“, die sich in den beiden Weltkriegen zeigte, markiert für ihn einen Wendepunkt in der Menschengeschichte.

An der Figur Goethes beschreibt Rosenstock-Huessy den beginnenden Vorschein einer realen Möglichkeit für eine humane Welt: „Erst die Generation der Weltkriege hat tatsächlich alles verlernt, was an Erbweisheit den Völkern des sogenannten Ancien Régime (der Zeit von 1100 bis 1789), also der Jugendzeit Goethes und Saint-Simons, vertraut war; erst wir verstanden weder in ritterlicher Art Krieg zu erklären noch in christlicher Art Frieden zu schließen. Dies beides aber war das Kennzeichen der christlich-ritterlichen Staatenwelt. Heute also erst ist diese Vergangenheit zu Ende gelebt, sind ihre Kräfte endgültig aufgebraucht. So erscheint uns denn auch Goethe, der in seinem FAUST diese ritterliche christliche Welt noch einmal verklärt hat und so mit seinen Werken im ,Ancien Régime‘ wurzelt, gerade heute als der erste Mensch, der sein Leben bereits wie wir leben mußte, jenen Bindungen entwachsen, dennoch keine einzige von ihren in Staat und Kirche verachtend, einer nicht mehr ritterlich-christlichen, sondern menschlichen Neuwelt vorauslebend.“

Der Gefahr der Entwurzelung des Individuums setzt Rosenstock-Huessy die Möglichkeit einer neuen Ganzheitlichkeit entgegen. Dabei gilt im das Soziale theoretisch und praktisch als dominant wesentlich. Sein dialogischer Weg des Denkens und Vermittelns, seine Ansprache des Menschen als Teil der Subjektwerdung, der „Du-Werdung“ im Angesprochen-Werden, weiß er sich mit anderen herausregenden Denkern der europäischen Geistesgeschichte verbunden.

„Im Kreuz der Wirklichkeit“ trifft zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf eine gänzlich veränderte Welt. Global organisieren sich Wirtschafts- und Arbeitswelten. Weltumspannend tragen neue Kommunikationstechniken zum Austausch zwischen Kulturen, Lebensweisen und Religionen bei. Rosenstock-Huessys umfangreiches Werk der Soziologie, sein Impuls für das anerkennende und anerkannte „Du“, sein unbeugsamer Humanismus finden im aktuellen zivilgesellschaftlichen Diskurs der „Einen Welt“ ihre zukunftsweisende Verortung und Verzeitlichung. Die Glaubwürdigkeit des Autors erwächst dabei auch gerade aus seiner biografischen Invariante der Richtung.

Sein klarer Bruch mit dem Nationalsozialismus, seine stete Ablehnung des stalinistischen Kommunismus und seine nicht unerheblichen Wirkungen auf Mitglieder des „Kreisauer Kreises“ geben vorliegendem Werk seine zeitgeschichtliche Signatur. Unterstrichen wurde dies auch durch die spätere enge Zusammenarbeit in den USA zwischen Freya von Moltke, die in Kreisau die heimlichen Konferenzen des Widerstands gegen Hitler mitorganisiert hatte, und Eugen Rosenstock-Huessy, der seine „Sprache des Menschengeschlecht“ gegen das durch den Nationalsozialismus „enteignete Wort“ setzte.

Das Editionsteam und der Talheimer Verlag sind Freya von Moltke durch ihr Vorbild dankbar verpflichtet. Sie übertrug dem Verlag die Rechte der Wiederveröffentlichung der „Soziologie“. Freya von Moltke und dem Gedenken des Sohnes von Eugen und Margrit Rosenstock-Huessy, Hans R. Huessy, widmen wir diese Ausgabe.

„Ich bin sicher, die dreibändige ,Talheimer Ausgabe‘ der ,Soziologie‘ von Eugen Rosenstock-Huessy wird ihren Platz im öffentlichen Diskurs über die Chancen einer humanen Weltordnung finden.“ Irene Scherer in ihrem Vorwort).

Eugen Rosenstock-Huessy: Im Kreuz der Wirklichkeit - Eine nach-goethische Soziologie. Talheimer Ausgabe

Band 1: Übermacht der Räume; Band 2: Vollzahl der Zeiten 1; Band 3: Vollzahl der Zeiten 2. Verbesserte, vollständige und korrigierte Neuausgabe mit Namen- und Sachregister. Herausgegeben von Michael Gormann-Thelen, Ruth Mautner, Lise van der Molen. Vorwort von Irene Scherer, Nachwort von Michael Gormann-Thelen

Talheimer Verlag, Mössingen 2009, 1964 Seiten