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sammlung kritisches wissen - Band 82

Helmut Fahrenbach

Bertolt Brecht – Philosophie als Verhaltenslehre

2018, 360 Seiten, br., 39,00 €
ISBN 978-3-89376-177-7

„Diese Untersuchung befasst sich nicht mit dem künstlerischen Werk Brechts, d.h. mit der Interpretation der Theaterstücke, Geschichten, Gedichte, schon eher mit der ihm zugehörigen ‚ästhetischen Theorie‘. Sie sucht einen allgemeineren und grundlegenderen Zugang zum Werk Brechts, indem sie die theoretisch-praktischen Grundlagen, Motive und Zielsetzungen seines Denkens zum Thema macht, wie sie sich in seinem, von ihm selber so genannten, ‚Philosophieren‘ darstellen. Im Falle Brechts wäre es freilich in einem besonderen Maße widersinnig, eine Differenz oder gar Entgegensetzung zwischen dem ‚Dichter‘ und dem ‚Denker‘ oder zwischen Kunst und politisch-gesellschaftlicher Theorie/Praxis anzunehmen – ohne dass die natürlich bestehenden Spannungen zwischen Kunst und Theorie nivelliert oder gar geleugnet werden dürften. Diese ‚formalen‘ Unterschiede gilt es vielmehr gerade in einen gegenseitig korrektiven und fruchtbaren Zusammenhang zu bringen. Das ist möglich, ja notwendig, weil Denken und Dichten, Philosophie und Kunst bei Brecht einem gemeinsamen Interesse an der Erkenntnis und Veränderung der veränderbaren Welt entspringen.“ Helmut Fahrenbach

sammlung kritisches wissen - Band 82
( Talheimer Verlag )

€ 39.00 (inkl. 7 % MwSt.)


Inhaltshaltsverzeichnis

 

Einleitung

 

I. Brecht im Problemfeld von Philosophie, Marxismus, Kunst

     1. Besondere Probleme philosophischer Brecht-Rezeption heute

     2. Die Problemstellung: Brecht als ‚marxistischer Philosoph‘

     3. Brecht im Spannungsfeld von ‚Marxismus und Philosophie‘

     4. Brechts besonderes Interesse: Philosophie auf dem Theater

 

II. „Marxistische Philosophie“ als „kritische Verhaltenstheorie“ und „Lehre vom richtigen Verhalten“

     1. Brechts Begriff praktischer Philosophie – im historischen und zeitgenössischen Kontext

     2. Denken und Erkennen als gesellschaftliches Verhalten

     3. Marxistische Philosophie als nach dialektischer Methode ‚eingreifendes Denken‘

     4. Ideologiekritische Sprachanalyse als besondere Methode dialektisch eingreifenden Denkens

     5. Mitteilungsprobleme und Darstellungsformen der Philosophie als Verhaltenslehre

     6. Pragmatische Verhaltenslehre und Ethik

 

III. Zur philosophischen Wirkungsgeschichte und Rezeption Brechts

     1. Brechts Theater- und Kunsttheorie in der philosophischen Diskussion

     2. Brechts Stellung im Bezugsfeld der zeitgenössischen Philosophie und marxistischen Theorie

 

IV. Bedeutung und Möglichkeiten philosophischer Aneignung Brechts

     1. „Politische Ästhetik“ im Sinne Brechts, Marcuses, Sartres

     2. Marcuse und Brecht – Marxismus und Kunst

     3. Anthropologische Grundlagen und Sinnperspektiven ästhetischer und ethischer Existenzverhältnisse

     4. Kierkegaards Begriffsbestimmungen: das „Ästhetische“ und das „Ethische“

     5. „Selbstverständnis“ als hermeneutisches Prinzip ‚existenzialer Interpretation‘

 

V. Zur Problemgeschichte: Kant – Feuerbach – Marx – Kierkegaard

     1. „Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung“. Kants höchste Sinnbestimmung der Philosophie nach ihrem „Weltbegriff“

     2. Ludwig Feuerbach – Anthropologische Kritik und Begründung der Philosophie

     3. Antizipierendes utopisches Bewusstsein und gesellschaftliches Sein – Blochs Transformation einer Marx‘schen Formel

     4. Kierkegaards ethische Existenzanalyse

 

Literaturhinweise

Bertolt Brecht – Zeittafel

Helmut Fahrenbach – Zur Person

 

 

Aus der Einleitung

 

„Kein schwierigerer Vormarsch als der zurück zur Vernunft!“ Bertolt Brecht

 

Der vorangestellte Satz des Philosophen aus dem Messingkauf, der in diese Ausführungen einstimmen soll, aber manchen vielleicht eher verstimmen wird, signalisiert die ‚Unzeitgemäßheit‘ und ‚Verfremdung‘, in die Brecht geraten ist. Was soll angesichts eines neu drapierten Irrationalismus, der emsigen Pflege des Privaten und Innerlichen, der ‚postmodernen‘ Aufklärungs- und Vernunftkritik, und sogar einer allgemeinen Ermüdung und speziellen ‚Brecht-Müdigkeit‘ der Linken, eine weitere und erneute Beschäftigung mit dem unverdrossenen Aufklärer und Marxisten Brecht? Es mag ja mancher ganz gerne zur Vernunft zurückwollen, aber wer, bis auf die ‚unverbesserlichen‘ Aufklärer, sieht das schon als einen ‚Vormarsch‘ an, und wer ist noch bereit, die eher gewachsenen Schwierigkeiten auf sich zu nehmen? Streben nicht viele hinter die Aufklärung – bürgerlicher und marxistischer Provenienz – zurück und erblicken gerade in diesem Rückschritt den rettenden Ausweg? Dies jedenfalls versuchten uns die ‚Postmodernen‘ einzureden und als unser ‚Post-Zeitalter‘ schmackhaft zu machen, in dem man nicht mehr in oder zu etwas steht, sondern daneben oder ‚danach‘ – was nicht heißt, dass sie nicht mit mancher bestimmten Kritik Recht haben können, auch wenn das Ganze, die Totalisierung der Vernunftkritik, falsch ist. Nun weiß man nicht erst aus Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen, dass das Unzeitgemäße und Befremdliche oft gerade das ist, was die Zeit braucht; und dazu gehört heute, wie mir scheint, immer noch oder wieder Brechts Art einer marxistischen Aufklärung und praktischen Philosophie. Das bedeutet andererseits nicht, dass nun Brecht in allem Einzelnen (noch) Recht hätte – was er selber am wenigsten erwartet haben würde –, wohl aber in der Grundtendenz und insofern im Ganzen. Was der Zeit u.a. nottut, ist also eine zurzeit unzeitgemäße neue Aneignung Brechts. Um das zu sehen, bedarf es jedoch – trotz der umfänglichen und aufschlussreichen Brecht-Literatur – weiterer Beschäftigung mit Brecht, die vor allem auf die philosophischen Grundlagen und Perspektiven seines Denkens und dessen Beziehung zu den theoretischen und praktischen Auseinandersetzungen der Zeit gerichtet sein muss. Darum steht im ersten Hauptteil Brecht als ‚marxistischer Philosoph‘ im Zentrum. Und im zweiten Hauptteil wird versucht, den Philosophen Brecht in den Kontext zeitgenössischer Philosophie und marxistischer Theorie einzurücken, wobei – gegenüber der bisherigen Diskussion – besonders die Bezüge zwischen Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Henri Lefebvre, Jean-Paul Sartre, Antonio Gramsci und Brecht einige neue Aspekte enthalten dürften. Dabei kommt es mir, ohne prinzipielle Differenzen verwischen zu wollen, eher auf die produktiv-kritischen Beziehungen und Konvergenzen an; denn diese Perspektive ist in der heute nötigen Rückbesinnung auf die Philosophie und marxistische Theorie des 20. Jahrhunderts besonders dringlich.
Wenn Brecht zum lebendigen Erbe der marxistischen Philosophie gehört, die philosophische Dimension und Bedeutung seines Werks aber – trotz einer Reihe wichtiger Arbeiten – noch keine zureichende systematische Darstellung erfahren hat, muss das Gewicht zunächst auf die Interpretation dieser Seite seines Werkes fallen.
Gewiss bedürfen manche der hier behandelten Themen, zumal im Hinblick auf eine kritische Aneignung von Brechts Philosophie der weiteren Erörterung. Gleichwohl hoffe ich mit dieser Darstellung zweierlei zu erreichen: erstens im Bild der marxistischen Philosophie des 20. Jahrhunderts die Figur Brechts deutlicher sichtbar werden zu lassen; und zweitens, Brecht als praktischen Philosophen, der er gerade auch auf dem Theater sein wollte, stärker ins Bewusstsein zu rücken.
Brechts Bedeutung für die praktische Philosophie und marxistische Theorie der Gegenwart beruht nicht nur auf der in seinem Denken repräsentierten kritischen Haltung, sondern auf den damit verbundenen Erkenntnisinteressen, den thematischen Schwerpunkten und ihren Beziehungen zur gegenwärtigen Problemlage im Bezugsfeld zwischen Philosophie, Marxismus und Kunst.
Dass Brecht das praktische Erkenntnisinteresse der marxistischen Philosophie – inmitten des wissenschaftlichen Zeitalters – auf die Erhellung und Orientierung ‚richtigen‘ Verhaltens und Lebens lenkt, bedeutet nicht nur eine Aktualisierung der höchsten Bestimmung der Philosophie als „Weisheitslehre“ – die schon Kant von der Philosophie als „Wissenslehre“ unterschieden und dieser übergeordnet hatte – sondern ineins damit auch eine Konkretisierung der Theorie-Praxis-Vermittlung marxistischer Theorie, und zwar beides in gegenseitiger Stützung und Korrektur. Denn die abstrakte und weltflüchtig-innerliche Tendenz der traditionellen philosophischen Weisheitslehre wird durch die marxistische Kritik und das sozialistische Projekt in die lebensweltliche Realität der Menschen zurückversetzt, und diese und ihre Veränderung gewinnen Tiefe und Perspektive im Hinblick auf die mit Weisheit unabdingbar verbundene Ausrichtung auf ein gutes – d.h. ein menschenwürdiges, gerechtes, glückliches – Leben. Und wenn Brecht diese Intentionen nicht in kontemplativ-theoretische Einstellung münden lässt, sondern sie in einem eingreifenden Denken, nicht zuletzt auch mit den Mitteln der Kunstkommunikation, zu verwirklichen sucht, dann liegt darin sowohl eine Kritik wie eine ‚Vollziehung‘ des praktischen Sinnes der Philosophie durch eine marxistische Philosophie der Praxis. Die gilt, auch wenn Brechts – mit Bloch geteilte – emphatische Orientierung an der 11. Feuerbachthese von Marx heute wohl einer Herabstimmung bedarf.
Brechts Versuche, der Philosophie – gegen ihre schulphilosophische Verselbstständigung und Esoterik – wieder eine verhaltens- und lebensorientierende Funktion zuzumuten, begegnen, in dem ‚unzeitgemäßen‘ Rückgang auf den Weisheitsbegriff, übrigens analogen Bestrebungen bei anderen marxistischen Philosophen. Denn sowohl Adorno als auch Bloch halten das mit dem Begriff der Weisheit und der Frage nach dem richtigen Leben gemeinte praktische Erkenntnisinteresse der Philosophie als deren eigentliche und höchste Bestimmung fest, auch wenn Adorno meint, die im gesellschaftlichen System verankerte Macht des „falschen Lebens“ habe dieser philosophischen Aufgabe die Chancen der Erfüllung entzogen, während Bloch sie als den utopisch-praktischen Richtpunkt einer „eingedenkenden Vernunft“ offenhält. In gewisser Weise bewegt sich Brecht, was die Ortung und Einschätzung der möglichen lebensorientierenden Funktion des Philosophierens angeht, zwischen Adornos negativer und Blochs utopisch-eschatologischer Perspektive auf einer mittleren Linie pragmatisch-dialektischer Vernunft. Darin triff er sich mit Intentionen, die lange währende Entfremdung, ja Entgegensetzung zwischen Philosophie und Alltagsleben rückgängig zu machen, indem Philosophie und Marxismus als kritische Analyse der faktischen alltäglichen Existenz und ihrer möglichen Veränderung konkretisiert und zusammengefasst werden – Lefebvre, Sartre, Existenzphilosophie.
In seinem Philosophieren behandelt Brecht vielfach sachlich und methodisch aktuelle Probleme gegenwärtiger Philosophie, wie etwa: die anthropologisch-praktische Bedeutung eines nicht-behavioristischen Verhaltensbegriffs, das Verhältnis von Sprachanalyse und Ideologiekritik, den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse, das Mitteilungs- und Kommunikationsproblem in der hermeneutischen Situation von Entfremdung und Verfremdung u.a., von den kunsttheoretischen Problembezügen gar nicht zu reden. Darum sollte Brechts Relevanz für die philosophische Diskussion der Gegenwart und die Notwendigkeit ihrer Erörterung eigentlich keiner weiteren Begründung bedürfen.

 

 

Eine Leseprobe

 

Marxistische Theorie und Philosophie befinden sich in einem permanent kritischen Verhältnis, seit Marx die Beziehung seines eigenen Denkens zur philosophischen Tradition – d.h. vor allem zu Hegel und den Linkshegelianern – durch die Dialektik von ‚Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie‘, zu bestimmen suchte. Diese Dialektik scheint weder eine Synthese noch eine gegenseitige Reduktion zuzulassen, wenngleich Marx selbst seine dialektische Formel im Sinne einer praxisbezogenen Aufhebung der Philosophie – als autonomer und höchster Theorie – in Kritik des Bestehenden, positive Geschichtswissenschaft und Kritik der politischen Ökonomie zunehmend philosophiekritisch verschärft, aber auch entspannt hatte.
Gegen die in der theoriegeschichtlichen Entwicklung weiter vollzogenen Entspannungen und gegenseitigen Negationen oder Reduktionen hat sich die Dialektik des kritischen Verhältnisses zwischen marxistischer Theorie und Philosophie allerdings immer wieder hergestellt. Ein bis heute nachwirkender Impuls ist vor allem von der Renaissance der marxistischen Theorie in den 1920er Jahren ausgegangen, nachdem Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) und Karl Korsch in Marxismus und Philosophie (1923) eben dieses Thema neu aufgeworfen hatten, wenn auch in primär ideologiekritischer Intention. Durch Antonio Gramsci, die Anfänge der ‚Kritischen Theorie‘ (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin und Herbert Marcuse), Ernst Bloch, Max Adler u.a. ist die Problematik in jeweils spezifischen Kontexten und Perspektiven weiter erörtert und in Bewegung gehalten worden.
Die gegenwärtige Lage des Verhältnisproblems lässt sich – jenseits bloßer Abgrenzungen oder gegenseitigen Ignorierens – durch das Spannungsfeld wechselseitiger Aufhebungsansprüche umgrenzen. Die dabei ins Spiel kommende Alternative einer partikularen Integration marxistischer Theorie in die grundlegend-umfassend bleibende Philosophie oder deren Aufhebung in marxistischer Theorie hat freilich in Philosophie und Marxismus je nach ihren verschiedenen Ausrichtungen zu sehr unterschiedlichen Verhältnisformen geführt. Im Umkreis des Marxismus stellt sich die Alternative vor allem als die zwischen einer Aufhebung der Philosophie im Sinne ihrer Ersetzung oder Ablösung durch marxistische Theorie – als politische Ökonomie, kritische Gesellschaftstheorie, Metaphilosophie/Lefebvre) – oder als ihre, wenn auch vielleicht tiefgreifende, Veränderung und Erneuerung zu einer ‚marxistischen Philosophie‘ der Praxis – Gramsci, Bloch, Sartre, Kosík, jugoslawische Praxis-Philosophen u.a. […]
Es mag nun zunächst überraschen, wenn in dem umrissenen Spannungsfeld zwischen Marxismus und Philosophie auf Bertolt Brecht als eine dafür thematisch relevante Figur Bezug genommen wird.