Inhaltsverzeichnis
Ist der Liberalismus am Ende? Editorial
Von Irene Scherer und Welf Schröter
I. Ist der Liberalismus am Ende?
Liberale Gesellschaft und politische Demokratie
Von Winfried Thaa
Liberalismus und digitale Revolution. Sozial-psychoanalytische Aspekte nach Erich Fromm
Von Rainer Funk
Freiheitsgrundrechte und Gleichheitssatz – kein Widerspruch in sich. Oder: Von Richard Schmid als Verfassungsinterpret lernen
Von Hans-Ernst Böttcher
Vom Strukturwandel der Öffentlichkeit zur Herrschaft des Plattformkapitalismus
Von Heinrich Bleicher-Nagelsmann
Grenzen des Liberalismus. Zur Aktualität der Liberalismuskritik von Herbert Marcuse
Von Martin Böhler
In der Utopie bestehen. Variationen über ein zeitgenössisches Thema
Von Friedrich Dieckmann
II. Philosophie und Gesellschaft
Utopisches Bewusstsein
Von Helmut Fahrenbach
Der Wille zur Revolution. Foucaults Reise in den Iran im Licht seiner vorherigen Bloch-Lektüre
Von Mathias Richter
„Dialektische Paarbildung“. Zur Rekonstruktion der verschollenen „Gnosis-Vorlesung“ Ernst Blochs
Von Matthias Mayer in Zusammenarbeit mit Irina Rückert
Notizen Günther Rudolphs zum Thema Gnosis im Rahmen der Vorlesung „Geschichte der Philosophie bis Renaissance“ bei Prof. Dr. Ernst Bloch an der Universität Leipzig im Herbstsemester 1954/55
Von Günther Rudolph
III. Kultur, Ästhetik, Lebenswelt
Zur notwendigen Demokratisierung des Algorithmus. Politisch-philosophische Impulse anlässlich „Dreißig Jahre Forum Soziale Technikgestaltung“
Von Welf Schröter
Wachstum: Mythos des Abendlandes? Essayistisches und Poetisches
Von Bernd Stickelmann
Das Gesicht der Tanzlehrerin. Über die Stufen des van Hoddis auf die Tanzbühne des Ghettos Warschau – Gedanken an Andziula Tagelicht
Von Karl Niemand
Autorinnen und Autoren
Aus dem Editorial
Der politische und wirtschaftliche Liberalismus hat eine lange, mehrgleisige Tradition, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Sie speist sich aus recht heterogenen, zum Teil gar widersprüchlichen Denktraditionen. Die europäische Verfassungstradition setzt auf Menschenrechte und Gewaltenteilung, auf die Verteidigung der Würde des Menschen und Egalität der Bürger*innen, auf freie Märkte, auf Parlamente und auf den Rechtsstaat. Häufig damit verknüpft war ein Menschenbild, das auf die Vervollkommnung des Einzelnen durch Arbeit und Bildung vertraut als Grundlage für die Selbstverwirklichung und individuelle Freiheit. Und nicht zuletzt gibt es eine Version des Liberalismus, der primär auf die individuellen Abwehrrechte gegenüber dem Staat ausgerichtet ist.
Liberalismus ist also ein politisch, ideologisch und normativ sehr breit angelegter Begriff. Seine Unterstellung eines konstitutiven Zusammenhanges von freien Märkten und der Freiheit des Individuums wurde immer wieder bezweifelt. Insbesondere die Frage, in wieweit die seit den 1980er-Jahren ökonomisch dominierende Variante des „Neoliberalismus“ das Wertefundament universeller individueller Freiheit untergräbt bzw. diese Werte ideologisch missbraucht, ist nach wie vor strittig.
Welche Perspektive und Zukunft hat der politische Liberalismus? Ist die liberale Erzählung am Ende? Welche politische Erbschaft des Liberalismus trägt heute noch angesichts der gegenwärtigen ökonomischen, technologischen und ökologischen Herausforderungen? Die fünfte Ausgabe der Buchzeitschrift „Latenz“ bietet in ihrem Schwerpunkt den Lesenden sechs Autorenbeiträge als mögliche Antworten.
In seinem Beitrag „Liberale Gesellschaft und politische Demokratie“ setzt sich der Politologe Winfried Thaa kritisch mit den Facetten des Liberalismus und den historischen wie gegenwärtigen Kritiken am Liberalismus auseinander. Dabei greift er auf Hegel und Marx zurück: „Hegel und Marx stehen also für zwei alternative Strategien gegen die selbstzerstörerischen Tendenzen der liberalen Gesellschaft, die sich vereinfacht als ‚politische Vermittlung‘ bzw. als ‚Aufhebung‘ charakterisieren lassen.“ Thaa geht auf die Erosion der zeitgenössischen pluralistischen Demokratie ein und verteidigt sie gegen die Dominanz des Marktes: „Spätestens mit den Erfolgen des Rechtspopulismus wurde aber offensichtlich, dass dieser Siegeszug des Liberalismus nicht in ein neues, für alle zugängliches Reich der Freiheit führte, sondern zu einer Konkurrenzgesellschaft, die neue Absteiger und Verlierer hervorbringt und damit die Türen öffnet für ein erneutes Umschlagen des Liberalismus in politische Polarisierung und Autoritarismus.“
Den „psychologischen Voraussetzungen von Freiheit“ folgt der Psychologe Rainer Funk in seinem Text über „Liberalismus und digitale Revolution – Sozialpsychoanalytische Aspekte nach Erich Fromm“. Funk beschreibt die „psychologische Begründung der Freiheitsfähigkeit des Menschen“ und bezieht sich auf Fromms Diktum der „Sozialcharakter-Orientierung“: „Im Blick auf die eigene Person geht es nicht darum, wer ich bin und was ich tatsächlich kann, sondern wie ich mich zur Darstellung bringen kann und welche Rollen ich mir aneignen kann, um ‚authentisch‘ anzukommen und erfolgreich zu sein.“ In der marktkonformen Ich-Orientierung erkennt der Autor die Risiken für freiheitlich-liberale Perspektiven: „In sozial-psychoanalytischer Perspektive trägt gerade die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der letzten 50 Jahre wesentlich dazu bei, dass der Liberalismus geschwächt ist.“
In Anlehnung an einen außergewöhnlichen Juristen greift der Verfassungsrechtler Hans-Ernst Böttcher die Bedeutung des Streikrechts auf. Entlang der Lebensgeschichte des vom NS-Staat verfolgten Rechtsgelehrten Richard Schmid analysiert Böttcher in seinem Aufsatz „Freiheitsgrundrechte und Gleichheitssatz – kein Widerspruch in sich. Oder: Von Richard Schmid als Verfassungsinterpret lernen“ die sozialen Rahmenbedingungen von Grundrechten: „Die Freiheit, die ich meine, ist nicht mehr nur die meine, sondern, nach dem berühmten Wort Rosa Luxemburgs in ihrer Kritik der russischen Revolution, die Freiheit des andern. Die Freiheiten, die in einem Gemeinwesen nicht Allen, sondern nur Einzelnen und Gruppen zustehen, sind Privilegien, deren Bestand im Zweifel gerade auf der Unfreiheit und der Unterdrückung der ‚Unterprivilegierten‘ beruht.“ Die Erbschaft Richard Schmids ist für Hans-Ernst Böttcher noch nicht abgegolten: „Sein Gedanke der Effektivierung des Gleichheitssatzes (im Sinne des Demokratieprinzips, im Sinne der ‚ursprünglich-ungebändigten unmittelbaren Demokratie‘, im Sinne der – wie wir heute sagen – Zivilgesellschaft) in Verbindung mit anderen Freiheitsgrundrechten könnte aber weit darüber hinaus Wirksamkeit entfalten.“
„Für Habermas bedeutet dies, dass Marx ‚aus der immanenten Dialektik der bürgerlichen Öffentlichkeit die sozialistischen Konsequenzen eines Gegenmodells‘ gewinnt.“ Mit diesem Satz markiert der Gewerkschafter und Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft Heinrich Bleicher-Nagelsmann seine Annäherung an die Analyse des Wandels der Medien. In welcher Beziehung steht die Pressefreiheit zu Demokratie und Liberalismus? In „Vom Strukturwandel der Öffentlichkeit zur Herrschaft des Plattformkapitalismus“ erklärt er im Einklang mit der Wissenschaftlerin Bettina Lösch: „Deliberative Politik – mit ihren tragenden Elementen von Öffentlichkeit, Demokratie und politischer Beteiligung – bietet, der modischen Praxis und neoliberalen Hegemonie widerstrebend, einen Ansatz politischer Theorie, der auf ein emanzipatives und partizipatorisches Verständnis von Politik abzielt.“
Wieviel Potenzial für den Autoritarismus steckt im Liberalismus? Welches Potenzial an demokratischer Entfaltung wird vom liberalen Denken unterstützt? – Antworten auf diese und weitere Fragen bereitet der Philosoph und Ethiker Martin Böhler in seinem Beitrag „Grenzen des Liberalismus. Zur Aktualität der Liberalismuskritik von Herbert Marcuse“ auf. Böhler befragt Marcuses Werk nach dessen Aktualität im Umgang mit heutigen Facetten liberalen bzw. liberalistischen Denkens und Handelns: „Einen Liberalismus jenseits der kapitalistischen Eigentumsordnung wird es schon aus definitorischen Gründen nicht geben können, zumal sein emanzipatorisches Potential sich mit der Ausarbeitung der Menschenrechte erschöpft hat.“
„In der Utopie bestehen. Variationen über ein zeitgenössisches Thema“ – so lautet der Titel eines wiederveröffentlichten Beitrages des Schriftstellers Friedrich Dieckmann, den dieser bereits im November 1990 publizierte. Mit einer ergänzten „Vorerinnerung“ des Autors erscheint der politisch-literarische Text hier nach dreißig Jahren erneut. Anlässlich eines ersten deutsch-deutschen Treffens von Schriftstellern und Intellektuellen in Weimar skizziert Dieckmann den Utopie-Begriff entlang des Denkens von Friedrich Hölderlin und Ernst Bloch. Die zu erlangende „belehrte Hoffnung“ aus notwendiger Enttäuschung konkret-utopischen Denkens wendet er auf die Haltung der Bürgerbewegung, die die DDR von innen heraus zu Fall brachte: „Um den falschen Gebrauch der Freiheit einzugrenzen, bedarf es des Zwanges, der seinerseits nicht anders kann, als falschen Gebrauch von sich machen. Diese Urspannung, das Urverhängnis des Menschenwesens, das biblischer Botschaft im Bilde des Ur-Paars vor Augen stand, das in der Freiheit nicht bestand, da sie auf Bindung gerichtet war, und das in der Bindung nicht bestand, da sie mit Freiheit verknüpft war, ist in unsern Tagen in zwei Teilen eines Volkes zur Grunderfahrung zwiegespaltenen Seins geworden.“
In der Rubrik „Philosophie und Gesellschaft“ finden sich vier Beiträge, die in unterschiedlicher Weise auf das philosophische Denken Ernst Blochs Bezug nehmen. „Utopisches Bewusstsein intendiert prinzipiell nicht (nur) eine Voraussicht auf das, was wahrscheinlich kommen wird und zu erwarten ist, sondern vollzieht ein Voraus-Denken und Entwerfen möglicher Zukunft in Akten prospektiver Phantasie.“ Mit diesen Zeilen eröffnet der 92jährige Philosoph Helmut Fahrenbach seinen Beitrag „Utopisches Bewusstsein“. Der Text erscheint als Auskoppelung aus dessen im Talheimer Verlag erscheinender Werkausgabe. Fahrenbach verknüpft das „utopische Bewusstsein“ mit den Potenzialen begründeter Hoffnung.
Eine besondere Entdeckung stellt die Ausarbeitung „Der Wille zur Revolution. Foucaults Reise in den Iran im Licht seiner vorherigen Bloch-Lektüre“ des Philosophen und Journalisten Mathias Richter dar. Warum wandte sich der französische Denker Michel Foucault bei seiner Abneigung gegen Blochs Philosophie dennoch dessen Werk zu? Mathias Richter eröffnet den Zugang zu diesem überraschenden Perspektivwechsel: „Trotzdem reiht sich seine Bloch-Lektüre im Sommer dieses Jahres und die kurz darauffolgende Iran-Reise in ein Zeitintervall, während dessen Foucault sein Theorieprogramm umbaut und die Frage nach der Möglichkeit von Widerstand neu stellt. Beides, das Erlebnis eines Volksaufstandes und das Interpretationsangebot, das er bei Bloch dazu fand, dürften ihn dabei bestärkt haben.“
Für die internationale Bloch-Forschung präsentiert die „Latenz“ eine außergewöhnliche Besonderheit. In der Reihe der „Leipziger Vorlesungen“ von Ernst Bloch gilt die Darstellung der Gnosis als verloren. Nun hat der Philosoph und Theologe Matthias Mayer handschriftliche Aufzeichnungen des damaligen Bloch-Studenten Günther Rudolph über die „Gnosis-Vorlesung“ gefunden und zusammen mit Irina Rückert rekonstruiert. Unter dem Titel „‚Dialektische Paarbildung‘. Zur Rekonstruktion der verschollenen ‚Gnosis-Vorlesung‘ Ernst Blochs“ führen Mayer und Rückert in die Aufschriebe ein und stellen Verbindungen zum Gesamtwerk Blochs wie auch zum Denken von Jürgen Habermas her: „Die antike Lehre der Gnosis ist nach Jürgen Habermas vor allem als Versuch der christlichen Theologie zu betrachten, einer ‚doppelte[n] Reflexion‘ sich zu stellen, d.h. sowohl ‚zum Judentum auf der einen und zu den hellenistischen Erben Platons auf der anderen Seite sich, ins Verhältnis‘ zu setzen.“ – Im anknüpfenden Text „Notizen Günther Rudolphs zum Thema Gnosis im Rahmen der Vorlesung ‚Geschichte der Philosophie bis Renaissance‘ bei Prof. Dr. Ernst Bloch an der Universität Leipzig im Herbstsemester 1954/55“ werden die Aufzeichnungen Rudolphs vollständig transkribiert wiedergegeben.
Die Rubrik „Kultur, Ästhetik und Lebenswelt“ wird eröffnet durch den Essay „Zur notwendigen Demokratisierung des Algorithmus. Politisch-philosophische Impulse anlässlich ‚Dreißig Jahre Forum Soziale Technikgestaltung‘“ von Welf Schröter. Darin nähert sich der Autor („Technik ist politisch“) dem Thema der gesellschaftlichen und betrieblichen Mitbestimmung im Prozess der fortschreitenden Digitalisierung unter besonderer Berücksichtigung der „vorausschauenden Arbeitsgestaltung“ und der Hervorhebung des „antizipierenden ‚Möglichkeitsbewusstseins‘ als Treiber sozialer Technikgestaltung“.
Unter dem Titel „Wachstum: Mythos des Abendlandes? Essayistisches und Poetisches“; greift der Autor und Lyriker Bernd Stickelmann die Bedeutung und den Bedeutungswandel von Mythen-Projektionen für die Menschen auf: Das Narrative der Mythen wird zu einer Entlastung unbeherrschbarer Wirrungen. Das täglich Erfahrene wird in Erzählung mit Anfang und Ende gebannt, damit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung gefolgt, die Angst vor dem Unklaren soll gebändigt werden.“ Seine „Ballade vom Wachstum: ein Mythos im Abendland?“ will herausfordern: „… / klammheimlich / gekaufte Worte / klammern sich / an Wachstum / in Ewigkeiten / ….“
Die Ausgabe der „Latenz schließt mit einer politischen Lyrik im Gedenken an den achtzigsten Jahrestag der Errichtung des nationalsozialistischen Ghettos auf dem Boden der Stadt Warschau. Karl Niemand ( ein Pseudonym) präsentiert seine Dichtung „Das Gesicht der Tanzlehrerin. Über die Stufen des van Hoddis auf die Tanzbühne des Ghettos Warschau – Gedanken an Andziula Tagelicht“. Die Zeilen erinnern an die Tänzerin und Tanzlehrerin Andziula Piotrkowska (geb. Tagelicht). Sie wurde im Jahr 1942 im KZ Treblinka ermordet.
Mössingen, im Februar 2021