Start Pressearchiv PM 15.03.1999 Kämpfen, wenn es sein muß
PM 15.03.1999 Kämpfen, wenn es sein muß

Kämpfen, wenn es sein muß

Heidi Crämer, "Mann und Frau sind vor dem Gesetz gleich" – aber nicht vor öffentlichen Toiletten. Feministische und andere Eindrücke vom Leben

Mit Heidi Crämer stellt der Talheimer Verlag nicht nur eine neue Autorin vor, sondern er kann zugleich in der talheimer reihe politische erfahrung ein eindrucksvolles persönliches Bekenntnis zu Zivilcourage und für gesellschaftliches Engagement präsentieren. Heidi Crämers politisch-private Tagebuchauszüge geben Einblicke in die Zeitgeschichte der letzten zwei Jahrzehnte. Der Band "Mann und Frau sind vor dem Gesetz gleich" zeigt die sensible Schnittstelle zwischen individuellem Empfinden und äußerem Einstehen für soziale Ziele, zwischen weiblichem Blick auf die Politik und gesellschaftlichen Hindernissen, die es zu überwinden galt. Heidi Crämer zeichnet ihr Leben zwischen Kindererziehung, Berufstätigkeit als Ärztin und Kreistagsmandat, zwischen Friedensdemonstrationen in Mutlangen und ihrem SPD-Ausstieg, zwischen Frauen-Solidarität und Universitätskritik nach. Viele Geschehnisse und Personen aus dem Landkreis Tübingen tauchen darin auf und geben dem Buch gerade dadurch jene besondere Note, die das "Regionalkolorit" ausmacht.

Eine Frau kämpft schreibend mit der Vereinbarkeit von familiärer Privatheit und aktiver Öffentlichkeit. Sie hat Punkte gemacht, für sich und für viele Frauen. Sie hat Tagebuch geführt über ihre Herausforderungen und Hoffnungen, die stets mehr waren als nur das Glück einzelner. Heidi Crämer trägt zur Ermutigung bei. Ein Buch, "ein politisch geführtes Tagebuch" nicht nur für Frauen: "Die Raketen sind abgezogen, Wackersdorf und Wyhl wurden nicht gebaut. Wir sind alt geworden. Die Jungen haben das Widerstehen übernommen. Sie machen ihre Sache gut. Bewundernswert gut. Wir dürfen uns auf anteilnehmendes Zuschauen zurückziehen, Ruhe geben, lockerlassen. Wenn's sein muß, auch wieder kämpfen. Wenn's sein muß!" (Heidi Crämer)

Der Band ist eine Textcollage aus Tagebuchaufzeichnungen der Autorin, Gedichten, politischen Textauszügen, Anekdoten, Zitaten, familiären Ereignissen und einem großen Fundus an geläuterter Hoffnung. Autorin und Verlag haben sich gemeinsam bemüht, aus mehreren hundert Seiten biographischer Aufschriebe eine attraktive Mischung von privaten und öffentlichen Erfahrungen zusammenzufügen. Das Hauptgewicht dieser sprechenden Erinnerungen erfaßt die 80er und 90erJahre.

Heidi Crämers Rückschau stellt keine Autobiographie im engeren Sinne dar. Sie fügt sich nahtlos in die Konzeption der "talheimer reihe politische erfahrung", in der individuelle Lebensläufe an den größeren gesellschaftlichen, öffentlichen Brüchen gespiegelt werden. Ihre Selbstbeschreibungen folgen weniger der Dynamik des persönlichen Alltages, sondern eher den äußeren Herausforderungen, mit denen sie und ihre Familie konfrontiert wurden. Die Spannung dieses Buches rührt von der wiederkehrenden Frage, woher die Kraft des persönlichen Widerstehens als Frau sich stets neu einstellt.

Die Originalbände wurden von Heidi Crämer dem "Tagebucharchiv" in Emmendingen überlassen.

Liebe zum Schreiben, zum Festhalten und Gestalten erlebter Alltäglichkeit macht die Autorin Heidi Crämer, Jahrgang 1936, zur Zeitzeugin politischer Umbrüche, vor allem zur Zeitzeugin frauenrelevanter Entwicklungen zwischen Nachkriegszeit und Jahrtausendwende. In Frauenfamilie und Frauengymnasium aufgewachsen wurde ihr Frauendiffamierung als gesellschaftliches Phänomen erst spät bewußt: "Ich wußte nicht, daß viele meiner individuell erlebten Defizite Rollenklischees waren – so subtil eingeflößt, daß ich sie nicht erkennen konnte." Als sie feministisch geworden um sich blickte, erkannte sie die gesellschaftliche Asymmetrie der Geschlechter. Mann und Frau sind vor dem Gesetz gleich, aber dem Mann steht das Klo offen, die Frau muß zahlen. Die Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen kämpfte für Gleichbehandlung – an der Basis von Toilettenanlagen gegen Münzautomaten, im Oberbau frauenfreier Führungspositionen für Quotenregelung.

Das vorliegende Buch, Patchwork aus Tagebucheinträgen, biografischen Rückblicken und Gedichten, ist ein authentisches Buch. Kernkraft, Raketen, Kreistag, Krieg und Nachrichten vom kühnen Leben tollkühner Kinder – die Autorin ist ein politischer Mensch mit feministisch geschulten Augen und Ohren und einem Schuß boshafter Lust am Lästern.