Start Pressearchiv PM 09.02.1999 "Hütet Euch vor Begeisterung"
PM 09.02.1999 "Hütet Euch vor Begeisterung"

"Hütet Euch vor Begeisterung"

Talheimer Verlag stellt das neue Buch der Autorin Charlotte El Böhler-Mueller vor

"Ich bin davon überzeugt, daß ein öffentliches Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus geschaffen werden sollte. Ich würde dafür plädieren, daß alljährlich am 30. Januar der 'Tag der Zivilcourage' stattfindet. Denn daran hat es ja wohl am meisten gefehlt und daran sollte mit diesem Gedenken immer wieder erinnert werden." Unter diesem Motto blickt heute Charlotte El Böhler-Mueller auf ihre Kindheit und Jugend zurück, die sie während des Nationalsozialismus erlebte.

Die Entstehung dieses Bandes, die Auseinandersetzung der Autorin mit ihrer Kinder- und Jugendzeit ist sicherlich zu allererst ihren Kindern zu verdanken, die nicht begreifen konnten, warum ihre Mutter kritiklos in dieser Zeit leben konnte. Sie ist aber auch dem Mut der Autorin zu danken, sich mit ihrem Leben in der Zeit nationalsozialistischer Diktatur auseinanderzusetzen und sich selbst unbequeme Frage zu stellen. Charlotte El Böhler-Mueller kann in ihrer Erzählung deutlich machen, daß sie in dieses Regime hineingewachsen ist, daß mangels vorbildhaftem Verhalten Erwachsener und vor allem rechtzeitigem Erkennen dessen, was mit der Wahl eines Adolf Hitlers auf die Menschen im damaligen deutschen Reich zukommen würde, diese Diktatur erst entstehen und schließlich 12 Jahre dauern konnte. Dennoch bleibt auch ihr die Frage, warum der Widerstand gegen Hitler vor und nach 1933 nicht erfolgreicher gewesen war.

Dem schmerzhaften Prozeß des Erinnerns und die Auseinandersetzung mit der eigenen Mitverantwortung konnte sich Charlotte El Böhler-Mueller vor allem deshalb stellen, weil sie von einem starken Motiv geleitet war: Die jetzt lebenden, vor allem jungen Generationen nicht allein zu lassen, Mahnerin zu sein gegen heute schon erkennbare, wenn auch manchmal nur kleine Zeichen des Unrechts. Andere aus ihrer Generation drückten es so aus: "Wir wollen nie wieder sagen, davon haben wir nichts gewußt" und "Weil ich damals geschwiegen habe, schreie ich heute".

Den Mut für ihre Haltung bezieht die Autorin aus ihrem christlichen Glauben und einem engagierten Verständnis der Bergpredigt. Christliche Nächstenliebe verbunden mit offenen Augen und Ohren für Unrecht und Leid, das eigene Engagement "im Kleinen" machten es erforderlich, nachdem sie ihre Lebensgeschichte für ihre Kinder aufgeschrieben hatte, sie auch einem größeren Kreis mitzuteilen.

Sie hatte erlebt, wie scheinbar normal und mit Einverständnis aller, menschliche Würde, eigenverantwortliches Handeln, das Sich-Kümmern um andere aus dem Alltag verdrängt werden konnte und wie Angst und Furcht Menschen so verändern, daß die kleinsten Regeln menschlichen Zusammenlebens gänzlich verkümmern können. Sie kannte die Erfahrung wie das Gefühl und die Achtung für Mitmenschen, weil sie anderen Glaubens, anderer Herkunft, anderer Überzeugung sind, erstirbt und wie Fanatismus und gläubiges Pathos, Menschen zu Mördern und sogar Schlächtern werden ließ.

Die Lebensgeschichte von Charlotte El Böhler-Mueller ist keine Heldinnengeschichte. Ihre Erzählung ist nicht spektakulär. Sie nahm nicht am Widerstand im "Dritten Reich" teil, sie war keine Täterin, die sich aktiv an der Verfolgung ihrer Mitmenschen schuldig machte. Ihr gläubiges Mit-Tun machte sie zur Mit-Läuferin wie so viele andere ihrer Generation. Das Vertrauen in die Obrigkeit ging bei ihr so weit, daß sie bis zum Schluß an die propagierte "Wunderwaffe", die alles ändern werde, glaubte. Erst die Kapitulation der Wehrmacht, der Vormarsch der amerikanischen Truppen erzwang, daß ihr fester Glaube an "den Führer" zumindest ins Wanken geriet. Es dauerte noch einige Zeit, bis sie lernte das Falsche vom Richtigen zu trennen und eine eigenverantwortliche und mitverantwortliche Persönlichkeit zu werden.

Sie mußte wichtige Unterscheidungen treffen: Man darf nicht mit kollektivem Blick auf die Vergangenheit schauen, wenn man seine eigene Persönlichkeit, sein individuelles Dasein in der Gegenwart bewahren will. Die Autorin beschönigt ihr eigenes Handeln bzw. Nicht-Handeln in der Zeit des Nationalsozialismus nicht. Sie relativiert nicht, sie will offen zu ihrer damaligen "Begeisterung" stehen, um für sich und andere aus der erlebten Zeit Lehren zu ziehen. Die Änderung der eigenen Haltung gegenüber anderen Menschen und der Welt geschieht nicht ohne Brüche und Widersprüche. In ihren Schilderungen ist dies zu spüren und nachzulesen.

Die unspektakuläre Einfachheit dieser biographischen Geschichte vor allem motivierte den Talheimer Verlag, dieses Buch zu veröffentlichen. Es ist die Geschichte einer Frau, wie es viele in Deutschland gibt und gab. Und es ist die Geschichte einer Frau, die die Kraft entwickelte, über ihr Leben nachzudenken und daraus Forderungen an sich selbst zu formulieren, Engagement für ihre Mitmenschen zu entwickeln.

Es ist zugleich eine Geschichte, die sehr deutlich macht, daß das Erinnern an jene Zeit unabdingbar bleibt. Der Talheimer Verlag wendet sich gegen jene Versuche einer "Normalisierung", mit der unter dem Deckmantel eines neuen Verhältnisses zur Vergangenheit das gesellschaftliche Gedächtnis geschmälert werden soll. Dagegen gilt es am Eingedenken festzuhalten, damit die unzähligen Opfer nicht durch Vergessen erneut – wie damals – ausgegrenzt und totgeschwiegen werden.