Start Pressearchiv PM 12.12.1998 Wider die falsche Normalisierung der Erinnerungsarbeit
PM 12.12.1998 Wider die falsche Normalisierung der Erinnerungsarbeit

Wider die falsche Normalisierung der Erinnerungsarbeit

Talheimer Verlag plädiert für Verantwortungsbewußtsein und Sensibilität anstelle des gefährlichen Walserschen Jammerns über "Schuld" und "Schande"

Vor einem "Schlußstrich" in der Erinnerungsarbeit an die NS-Verbrechen warnt der Talheimer Verlag und spricht sich gegen eine falsche "Normalisierung" im Umgang mit deutscher Geschichte aus. Die Kritik an ritualisierten Formen staatlichen Gedenkens an die in den KZs ermordeten Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen darf nicht zu einem Ende des Gedenkens gedeutet werden. Die handwerklich schlecht formulierte Rede Martin Walsers zur Frankfurter Buchmesse 1998 hatte diesem Verständnis Vorschub geleistet. Walser nimmt in seinem gefährlichen Jammern über "Schuld" und "Schande" billigend in Kauf, daß den Kindern und Enkeln der Nachkriegsgeneration das Wegsehen als Grundhaltung legitimiert wird.

Zu Beginn der jüngsten Veranstaltung des Talheimer Verlages am 2. Dezember 1998 aus Anlaß des zehnjährigen Verlagsjubiläums hatten Irene Scherer und Welf Schröter unmißverständlich erklärt: "Wir wollen zu denen gehören, die dieser falschen Normalisierung widersprechen." Zwar teile man nicht die Wortwahl von Herrn Bubis, der das schlimme Wort der geistigen "Brandstiftung" bemühte, doch sei die Sicht, die Emotion und das Motiv seiner Wortmeldung mehr als verständlich. Schröter verwies auf die Position der Verlagsautorin Karola Bloch, die bis zu ihrem Tod immer wieder unerbittlich auf die notwendige Erinnerung an die Toten der NS-Konzentrationslager pochte und persönlich unterstrich, sie sei froh, "keine Deutsche zu sein".

Erforderlich sei, so der Geschäftsführer des Talheimer Verlages, eine andauernde Sensibilität und Sensibilisierung. Wenn in einer Stadt nach dem Tod einer Bürgerin mit jüdischer Herkunft, die Kontroverse um ihren Nachlaß unter anderem mit den Sprachbrocken "Beute – Geldgier – Jude – Geld – Nachlaß" öffentlich geführt und kaum beanstandet wird, dann erhält die Unterstützung für die Forderung nach "Normalisierung" einen ambivalenten Charakter. Wenn mit diesen Sprachbrocken Menschen verletzt werden, sich diese verletzt abwenden und dem Ort den Rücken kehren, wächst – so Schröter – die Möglichkeit, daß "Normalisierung" mit Begrenzung der Sensibilität gleichgesetzt wird.

Bei der Debatte um Walsers Weg des provozierenden Verletzen-Wollens werden zwei Ebenen durcheinander gebracht, die unbeabsichtigte Wirkungen zeitigen. Der Kriegsgeneration, den unmittelbaren Tätern und jenen, die wissentlich weggesehen haben, war und ist der Vorwurf der "Schuld" zu machen. Sie besitzen vielleicht im nachhinein das Gefühl der "Schande". Der Generation danach, den Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration, muß zurecht mit der Forderung nach wissender Verantwortung und historischer Haftung begegnet werden. Verantwortung und Haftung aber lassen sich nicht im Walserschen Sinne "normalisieren", wenn man nicht eine Beendigung im Sinn hat.

Sensibilität ist gefragt. Dieses Motiv prägte auch die Einladung des Talheimer Verlages an Adolf Theis zum 60. Jahrestag der sogenannten "Reichskristallnacht". Die Begegnung stand für den Eingeladenen unter dem Motto "Die Sprache ist weiser als der, der sie spricht". Adolf Theis und Welf Schröter plädierten für eine mutige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, gegen das Vergessen. "Als ein weiteres Stück der Verabschiedung von dieser Universität" betrachtete der frühere Universitätspräsident Adolf Theis seinen Vortrag "Ein Europa der Toleranz – Die Erbschaft des ,Kreisauer-Kreises' für die europäische Integration", den er auf Einladung des Talheimer Verlages am 2. Dezember 1998 im Historischen Lesesaal der Universitätsbibliothek hielt. Der Abend war in Zusammenarbeit mit der Eugen-Rosenstock-Huessy-Gesellschaft und mit Unterstützung durch das Ludwigshafener Ernst-Bloch-Zentrum organisiert worden. Sein Vortrag sei für ihn – so Theis – ein zusätzlicher Stein zu "jenen beiden Platten aus Marmor, die sich am Eingang der Neuen Aula befinden." Sie erinnern insbesondere auch an jene früheren Mitglieder der Tübinger Universität, die im Widerstand gegen Hitler gewesen sind. Theis betonte die damaligen bitteren Auseinandersetzungen um die Anbringung der Platten. Eine Universität lernte mit ihrer Geschichte umzugehen. Theis: "Das Elend des Nicht-Sehen-Wollens begann bei dieser Universität lange vor 1933." Erforderlich sei die Auseinandersetzung mit dem Gewesenen, nicht dessen Verschweigen: "Diese beiden Platten [sollen] den einen oder anderen immer wieder daran erinnern, wieviel nachgedacht werden muß, über das, was die Universität als Geschichte mitzutragen hat" (Theis).

"Das Erinnern fördert die Möglichkeiten für einen humanen Umgang in einer Gesellschaft, es fördert Demokratie und Selbstbestimmung. Zivilcourage und eigenverantwortliches Handeln sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie müssen von Generation zu Generation neu gelernt werden." (Irene Scherer)

Der Talheimer Verlag bereitet zusammen mit Freya von Moltke und der holländischen sowie der deutschen Eugen-Rosenstock-Huessy-Gesellschaft die Neuausgabe von Werken Eugen Rosenstock-Huessys vor. Er war Lehrer und Mentor des "Kreisauer Kreises".

Auszug aus der Begrüßung zur Veranstaltung am 2. Dezember 1998 Irene Scherer, Geschäftsführerin des Talheimer Verlages

"Doch bevor wir uns dem Thema des heutigen Abends zuwenden, lassen Sie mich etwas zum Talheimer Verlag sagen, der dieses Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiern kann: Von Anfang an war das Thema, das mit dem Namen Eugen Rosenstock-Huessy, dem Mentor und Lehrer des "Kreisauer Kreises" verbunden ist, ein zentraler Baustein unseres Verlagsprofiles. Der Name Rosenstock-Huessy steht für den Widerstand gegen das NS-Regime, steht für die Auseinandersetzung mit der Sprache des Nationalsozialismus, steht für den christlich-jüdischen Dialog, steht für einen humanistischen Traum eines sozialen Hauses Europa.

In vielfältiger Weise finden sich diese Gedankengänge wie Leitmotive in unseren Büchern. Beispielhaft möchte ich Ihnen nennen:

  • Die Neuherausgabe von Werken Rosentsock-Huessys, wie etwa die in Vorbereitung befindliche Soziologie, die der Talheimer Verlag in Zusammenarbeit mit Freya von Moltke und der deutschen und holländischen Eugen Rosenstock-Huessy Gesellschaft dem heutigen Lesepublikum wieder zugänglich machen will.
  • In der Schriftenreihe unter dem Namen "stimmstein" diskutieren Soziologen, Theologinnen, Juristen und LiteraturwissenschaftlerInnen über die Wirkungsgeschichte Rosenstocks und des Kreisauer Kreises.
  • Wenn auch nicht in direkter Verbindung, so sind doch die biographischen Lebensgeschichten der vor kurzem verstorbenen Mieke Monjau und die Erinnerungen von Charlotte El Böhler-Mueller – die im Dezember 1998 im Talheimer Verlag erscheinen – auf ähnliche und vergleichbare Motive zurückzuführen. Auch die gerichtlichen Verteidigungsreden der "Seniorinnen und Senioren für den Frieden" wie auch die vom Talheimer Verlag neu verlegte Autobiographie Karola Blochs folgen den Fragen, warum der Widerstand gegen Hitler nicht erfolgreicher gewesen war.
  • In der Talheimer reihe europäische gespräche beraten Unternehmerinnen und Unternehmer und Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen wie deutsche Erfahrungen in Europa herangezogen werden können, ohne daß neue Vorbehalte aus den Öffentlichkeiten der Nachbarstaaten zu Aversionen und Befürchtungen führen.

 

Bei Anbeginn der Arbeit des Talheimer Verlages stand die produktive Spannung zwischen den Utopiediskussionen Eugen Rosenstock-Huessys und der Blochschen Philosophie. Diese Spannung haben wir nicht einseitig aufgelöst und wir wollten es auch nicht. Diese Spannung ist konstitutiv für das Profil unserer verlegerischen Arbeit. Hinzu tritt ein umfangreiches Sortiment an Sachbuchliteratur, das sich insbesondere auch mit Geschlechterfragen und den Veränderungen der Arbeitswelt befaßt. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die von uns entwickelte "Virtuelle Bloch-Akademie".

Zehn Jahre Talheimer Verlag erbrachten fast 100 lieferbare Titel und kein Ende für ein gesellschaftspolitisches Engagement im Geiste einer demokratischen Zivilgesellschaft."