Inhaltsverzeichnis
Francesca Vidal, Irene Scherer Einige Worte im Voraus
Anne Frommann Über das Aushalten von Widersprüchen und Enttäuschungen. Zum hundertsten Geburtstag von Karola Bloch
Welf Schröter Von der Schwierigkeit, Haltung zu bewahren
Francesca Vidal Küchenpläne und das Praktisch-Werden der Hoffnungsphilosophie. Die Architektin Karola Bloch
Anne Frommann Die widerständige Frau. Karola Bloch – Louise Michel
Jens-Jürgen Ventzki (60 Jahre danach) – Das Ghetto Lodz und das bürgerliche Litzmannstadt: Zwei Welten in einer Stadt
Adam Krzeminski Deutsch-Polnische Verspiegelungen – Sechzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz
Maaike Engelen To speak or to be outspoken – what is the question?
Jürgen Moltmann Die Wiedergeburt Europas aus dem Geist der Hoffnung
Francesca Vidal Heimat – Worin noch niemand war?
Klaus Kufeld Naturrecht und Aufrechter Gang
Aus dem Vorwort:
„An den 100ten Geburtstag von Karola Bloch (geb. 22.01.1905; gest. 31.07.1994) erinnerten im Ernst-Bloch-Zentrum der Talheimer Verlag, die Ernst-Bloch-Gesellschaft und das Zentrum mit einer Tagung unter dem Titel: ‚Ein Leben in aufrechter Haltung‘. Unter diesem Motto luden die Veranstalter ein, etwas zu erfahren über das Leben und Wirken von Karola Bloch und über die Art und Weise wie ihr Erbe heute verstanden werden kann. Diese Zielsetzung gab den Anlass, das für 2005 geplante Jahrbuch zum Themensatelliten ‚Aufrechter Gang‘ Karola Bloch zu widmen, sie quasi als Beispiel für die Verwirklichung eines aufrechten Lebens vorzustellen. Wir sind uns bewusst, dass dadurch das Thema aufrechter Gang schwerpunktmäßig als Merkmal von Persönlichkeit diskutiert wird und andere Aspekte vernachlässigt werden. Mit Ernst Bloch wollen wir den aufrechten Gang als eine Haltung verstehen, die auf Recht und Würde des Menschen setzt, die nach Enttäuschungen nicht resigniert, sondern in Hoffnung auf Besseres nach immer neuen Wegen sucht, den Ansprüchen nach einer menschen- und naturgerechten Welt nachzukommen. Um dies nicht nur theoretisch oder an willkürlichen Beispielen zu illustrieren, scheint uns nichts besser geeignet als das Leben von Karola Bloch als Leitfaden zu nehmen, um zu zeigen, welche Bedeutung der Anspruch auf einen Aufrechten Gang erlangt, wenn er denn praktisch wird.
Wieso wir das Leben von Karola Bloch als eines in aufrechter Haltung verstehen, wird in einigen Aufsätzen erörtert und durch Zitate von Karola Bloch illustriert. Welf Schröter, Freund, Verleger und Herausgeber der Biografie, der Briefe, Interviews und Dokumente von Karola Bloch beschreibt, wie sich diese Haltung auf Lebensentscheidungen auswirkte. Anne Frommann, Vorsitzende des von Karola Bloch gegründeten ‚Vereins Hilfe zur Selbsthilfe‘, beschäftigt sich mit dem Aushalten von Widersprüchen und Enttäuschungen am Beispiel der Biografie von Karola Bloch und zeigt, wie diese Ernst Blochs Leitsatz aus den Bauernkriegen ‚Geschlagen ziehn wir nach Haus, die Enkeln fechtens besser aus‘ für sich und ihr Leben interpretiert hat. Außerdem drucken wir an dieser Stelle einen Text von Anne Frommann, den sie Karola Bloch und Louise Michel im Jahr 2000 gewidmet hat.
Francesca Vidal stellt die These auf, dass Karola Bloch schon bei der Wahl ihres Berufes als Architektin im Auge hatte, wie eine ‚Philosophie der Hoffnung‘ praktisch werden und die Würde des Menschen architektonische Planungen beeinflussen kann. Dies zeigt sie am Beispiel der Küchenplanungen von Karola Bloch, die diese in der DDR veröffentlichte als ihr ein praktisches Arbeiten schon verunmöglicht worden war.
Eine der größten enttäuschten Hoffnungen für das Leben von Karola Bloch war das Schicksal ihrer Eltern, Geschwister und vieler weiterer Familienangehöriger, die ins Lodzer Ghetto eingesperrt wurden, um dann in Treblinka ermordet zu werden. Jens-Jürgen Ventzki schildert auf beklemmende Weise das Leben der Menschen im Lodzer Ghetto und die Unbekümmertheit und Ignoranz der Täter, die sich neben den menschenunwürdigen Verhältnissen im Ghetto ein bequemes Leben einrichteten. Für Ventzki ist diese Schilderung sehr schwierig, war doch sein eigener Vater der damalige NS-Oberbürgermeister und damit verantwortlich für das Ghetto und für das Leid der Menschen. Gerade dadurch aber wird seine Schilderung zum glaubwürdigen Beleg, dass das Ziel aufrecht zu gehen heute nur verwirklicht werden kann, wenn Erinnerungsarbeit stetig weiter gemacht wird und einer Abkehr von der Verantwortung entgegen getreten wird. In bewunderungswürdiger Weise sucht Jens-Jürgen Ventzki die Spuren in der Vergangenheit seiner Familie, um so aufzuzeigen, wie bedeutsam solche Erinnerungsarbeit für die Zukunft unsere Gesellschaft ist.
Adam Krzeminski, polnischer Publizist und Autor der in Warschau erscheinenden Zeitung POLITYKA und der Hamburger ZEIT, nimmt den Geburtstag von Karola Bloch und den 60ten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum Anlass, das deutsch-polnische Verhältnis heute zu beschreiben. Auch Krzeminski fordert Erinnerungsarbeit, er betont, dass polnische Schüler zwar einiges über die deutsche Geschichte wüssten, deutsche aber mehr oder weniger gar nichts über Polen und seine Geschichte. Gerade darum aber ginge es, sich der Geschichte zu vergewissern und zu überlegen, was den nächsten Generationen vermittelt wird, damit ein Dialog überhaupt möglich ist. Erst solche Kenntnis würde ein aktives Kennenlernen ermöglichen und damit den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Zukunft öffnen können.
Zu einer Form der Beschäftigung mit Erinnerung gehört auch der Aufsatz von Maaike Engelen. Sie beleuchtet aus psychoanalytischer Perspektive die Beziehung zwischen Ernst und Karola Bloch als eine zwischen Theorie und Praxis, mithin zwischen Schrift und Tat. Schrift ist notwendig für die Erinnerungsarbeit, beinhaltet aber auch immer die Gefahr von der ‚inneren Wahrheit‘, der ‚Ahnung‘, die den Menschen zum aufrechten Gang motiviert entfremdet zu sein. In der Offenheit des Blochschen Denkens und seiner Betonung der Entwicklung von Möglichkeiten und in Karolas Bindung dieses Denkens an die Praxis sieht Engelen die Chance, der Gefahr der Entfremdung zu entgehen. Für Engelen wird die Beziehung damit quasi zur therapeutischen, in der der Analyst Bloch durch die Praktikerin gerettet wird.
Jürgen Moltmann beschreibt Europa als Kontinenten der Hoffnung und will so zeigen, inwiefern Zukunftshoffnungen Geschichte mobilisieren können und der Wille, ein Europa in aufrechter Haltung zu bauen, sich dieser Bindung an die Hoffnung in der Geschichte zu vergewissern hat.
Das Thema ‚aufrechter Gang‘ freilich ließe sich unter vielen weiteren Fragen vertiefen, etwa danach, wann der aufrechte Gang zum Zwang zu werden droht. Dieser Breite versucht der Themensatellit im Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen gerecht zu werden, was Klaus Kufeld in seiner Beschreibung des Satelliten aufzeigt.
Anlässlich des ersten Todestages von Karola Bloch wandten sich Welf Schröter und Jan Robert Bloch an die Öffentlichkeit mit dem Ziel ein Forum für einen ‚Offenen Diskurs über Chancen, Risiken und Gestaltungsmöglichkeiten der Informationsgesellschaft‘ zu schaffen. Daraus entstand die ‚Virtuelle Ernst-Bloch-Akademie‘, die sich zum Ziel setze Blochs Philosophie in Bezug auf aktuelle, gesellschaftliche Fragestellungen zu diskutieren. Eine diese Fragen lautet: ‚Was bedeutet die Philosophie des Aufrechten Ganges für die gesellschaftliche Emanzipation des Menschen angesichts des kommenden Umbruchs zur Informations- und Mediengesellschaft?‘. Mittlerweile besteht diese Akademie seit zehn Jahren.
Das Jahrbuch 2006 orientiert sich am Satelliten ‚Heimat‘ und hat den Arbeitstitel ‚Heimat in vernetzten Welten‘. Als Einstimmung auf das Thema drucken wir einen Essay von Francesca Vidal über Heimat als ‚Ort, worin noch niemand war‘.“
„Am 22. Januar 2005 jährte sich zum einhundertsten Mal der Geburtstag von Karola Bloch, der Polin, Jüdin, Widerstandskämpferin und Anhängerin eines ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘. Karola Bloch wurde als Tochter des jüdischen Ehepaares Maurycy und Helena Piotrkowski in Lodz (Polen) geboren. Schon früh registrierte sie die erheblichen sozialen und materiellen Unterschiede zwischen ihrer gutbürgerlichen Familie und den in Armut lebenden Arbeitern in der Textilfabrik ihres Vaters. Sie lebte zeitweise in Moskau und im Berlin der 20er Jahre. Sie entschied sich für den Beruf einer Architektin. Als zwölfjährige erlebte sie die Russische Revolution in Moskau. Sie studierte in Berlin und Zürich. Kennengelernt haben sich Ernst und Karola Bloch in Heidelberg. Stationen ihrer gemeinsamen Flucht waren Zürich (1933), Wien, wo sie 1934 heirateten, Paris, Prag, New York (ab 1938) und Cambridge (Massachusetts). Während der Nazi-Zeit fuhr sie unter einem Tarnnamen durch das ‚Reich‘, um Widerstandskämpfer mit Informationen zu versorgen. In Treblinka wurden ihre Eltern und ein großer Teil ihrer Familie ermordet. 1949 gingen sie nach Leipzig. Ende der zwanziger Jahre hatte sie sich der KPD angeschlossen, um gegen Hitler vorzugehen. Im Januar 1957 wurde sie wegen ihrer offenen Sympathie mit der Rebellion in Polen und dem Aufstand in Ungarn aus der SED ausgeschlossen. Ernst und Karola Bloch hatten von nun an Berufs- und Publikationsverbot in der DDR. 1961 verließen beide die DDR und wohnten bis zu ihrem Tod in Tübingen. In Tübingen war Karola Bloch auch nach dem Tod ihres Mannes (am 4. August 1977) politisch aktiv und setzte sich für die Rechte benachteiligter Menschen und Gruppen ein. Karola Bloch schloss sich der Studentenbewegung an, wandte sich gegen den Vietnamkrieg und nahm Kontakt zu Rudi Dutschke auf. Sie unterstützte die Charta 77 und den Aufstand in Nicaragua gegen die dortige Diktatur. 1981 protestierte sie gegen die Ausrufung des Kriegrechtes in Polen. Ihr Herz schlug für Solidarnosc und später für die ‚Montagsdemonstrationen‘ in Leipzig. Karola Bloch arbeitete in der Friedensbewegung und half ‚Frauen gegen Männergewalt‘. Bis zu ihrem Tod am 31. Juli 1994 galt ihre Energie dem Widerspruch gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Neonazismus.“ (Welf Schröter)
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